Die “Trainingsphilosophie Deutschland”: Ein guter erster Schritt, aber nicht die Revolution, die wir gebraucht hätten

Seit Ende 2023 gibt es eine neue offizielle Trainingsphilosophie für den deutschen Fußball. Hannes Wolf und sein Kompetenzteam beim DFB haben eine klare Vision entwickelt: Mehr Spielfreude, mehr Intensität, mehr Wiederholungen. Doch reicht das aus, um die Nachwuchsarbeit in Deutschland nachhaltig zu verbessern? Wir haben uns das Konzept genau angesehen – und kommen zu einem gemischten Fazit...

Warum eine "Trainingsphilosophie Deutschland" überhaupt nötig ist


Es ist kein Geheimnis, dass der deutsche Fußball in der Talententwicklung den Anschluss verloren hat. Während andere Nationen gezielt auf individuelle Förderung und flexible Spielformen setzen, ist das deutsche System über Jahre starr und wenig innovationsfreudig geblieben. Spätestens seit der Weltmeisterschaft 2018 war klar, dass es Veränderungen braucht. Doch der Umbruch kam spät. Erst nach der enttäuschenden EM 2021 und einer Reihe schwacher Nachwuchsjahrgänge wurde der Druck so groß, dass der DFB reagieren musste.


Die ausbleibenden Erfolge der Männer-Nationalmannschaft des DFB sind nämlich nur die Spitze des Eisbergs. So wurden vier Negativ-Trends ermittelt, die die den deutschen Fußball-Nachwuchs bedrohen: 

  1. Einsätze von U21-Spielern in Profiligen: Deutsche Talente erhalten zu wenig Einsatzzeit in den Profiligen

  2. Dropout-Quote: Gerade in höheren Altersbereichen werden immer mehr Mannschaften abgemeldet

  3. Gegnerorientierung: In den Nachwuchsleistungszentren verschiebt sich der Fokus immer mehr auf das Gewinnen des nächsten Spiels - "Taktisierung" und "Rondoisierung" statt Entwicklung individueller Klasse

  4. Der Blick nach oben: Trainer orientieren sich zu stark am Erwachsenen-Fußball - Erwachsene brauchen jedoch anderes Training als Kinder und Jugendliche


Hannes Wolf wurde als Direktor für Nachwuchs, Training und Entwicklung installiert, um die Wende einzuleiten. Zusammen mit einem Team aus ehemaligen Profis und Trainern erarbeitete er eine neue Leitlinie für das Kinder- und Jugendtraining in Deutschland. Ende September 2023 wurde die Trainingsphilosophie Deutschland vorgestellt.


Das Ziel: Ein systematischer Wandel in der Art und Weise, wie junge Spieler in Deutschland trainieren und gefördert werden.

„In den vergangenen Jahren kamen viele junge deutsche Spieler nicht oder nur selten in der Bundesliga zum Einsatz. Das war früher anders. Die Kurve geht seit 2010 steil nach unten, die von ausländischen U23-Spielern steil nach oben. Das muss sich ändern, wenn wir mit den Nationalteams wettbewerbsfähig bleiben wollen.“

<div class="editor-content"><p>Antonio Di Salvo</p></div>,

Antonio Di Salvo

Trainer DFB-U21-Nationalmannschaft & Mitglied im Kompetenzteam

Kernprinzipien der neuen "Trainingsphilosophie Deutschland"


Die Grundidee der neuen Trainingsphilosophie ist simpel und dennoch entscheidend: Jedes Kind soll sich in jeder Trainingseinheit bestmöglich entwickeln können.

Dazu setzt der DFB auf drei zentrale Prinzipien: Freude, Intensität und Wiederholung.

Diese Elemente sollen garantieren, dass alle Kinder auf dem Platz aktiv eingebunden werden, dass Wartezeiten minimiert und Ballkontakte maximiert werden. Weg von den klassischen statischen Übungen, hin zu einem Training, das den natürlichen Spieltrieb der Kinder fördert.

Besonders im Fokus stehen dabei kleine Spielformen wie 3vs3 oder 5vs5, die in den jüngeren Altersklassen flächendeckend eingeführt werden.

Die Philosophie knüpft damit an Konzepte an, die in anderen Ländern längst Standard sind.

In Belgien beispielsweise wurde schon vor über 20 Jahren erkannt, dass Kinder vor allem durch viele Ballkontakte und Spielzeit besser werden. Während sich dort durch ein konsequent durchgesetztes Ausbildungssystem Spieler wie Kevin De Bruyne, Eden Hazard und Romelu Lukaku entwickelten, hat Deutschland bis 2023 gebraucht, um ähnliche Prinzipien flächendeckend zu etablieren.

"Wir müssen den Bolzplatz ins Training packen, sonst wird nicht genug gekickt. Das ist eine Tatsache. Dass das jetzt organisiert dargestellt werden muss im Kinder- und Jugendtraining, ist der Zeit geschuldet, in der wir uns befinden."

<div class="editor-content"><p>Jürgen Klopp</p></div>,

Jürgen Klopp

Ex-Profi-Trainer, u.a. bei Borussia Dortmund & FC Liverpool

Im Zentrum der Trainingsphilosophie: Die beste Trainingseinheit

Aus dem altbekannten S-Ü-S-Modell wird die "beste Trainingseinheit". Das Ziel: Mehr Netto-Spielzeit für alle Spielerinnen und Spieler durch kleinere Mannschaften.

(Bild-Quelle)

Die ersten Maßnahmen: Ein Anfang, aber noch keine tiefgreifende Reform


Die ersten Änderungen sind bereits in den Vereinen spürbar. Die neuen Spielformen im Kinderfußball wurden verbindlich eingeführt, Turniersysteme ersetzen klassische Ligenspiele mit Tabellen, und Jugendtrainer werden durch Schulungen und Workshops an die neue Philosophie herangeführt. Der DFB hat erkannt, dass es nicht reicht, eine Philosophie auf dem Papier zu formulieren – sie muss in den Vereinen gelebt werden.


Doch genau hier liegt auch eines der größten Probleme: Der Wandel hängt davon ab, dass ihn die Trainer an der Basis mittragen. Es gibt keine verpflichtende Anpassung der Trainerausbildung, keine zusätzlichen Förderstrukturen, die sicherstellen, dass das neue Denken nachhaltig verankert wird. Die Veränderungen beruhen darauf, dass Vereine und Trainer von sich aus mitziehen. Und das ist in einem so heterogenen System wie dem deutschen Amateurfußball ein großes Risiko.

Die anfängliche öffentliche Gegenwehr (wie Watzkes Polemik gegen die Reform) unterstreicht, dass der DFB zunächst intern nicht alle Schlüsselakteure abgeholt hatte. Es bleibt zu kritisieren, dass ein so wichtiger Mitentscheider im DFB-Präsidium offenkundig nicht frühzeitig ins Boot geholt oder von den Plänen überzeugt wurde – was zu einem vermeidbaren Reputationsschaden führte​.

Zwar hat Wolf diesen Konflikt im Nachhinein entschärfen können, aber er zeigt, dass die Change Story anfangs nicht geschlossen von oben getragen wurde. Insgesamt entsteht der Eindruck, der deutsche Fußball reagiert verspätet und muss nun Aufholarbeit leisten, um international wieder Anschluss zu finden.


Unsere kritische Sicht: Der DFB bleibt hinter den Möglichkeiten zurück


Bei Advance.Football setzen wir seit Jahren auf individuelle Förderung, intensive Ballkontakte und moderne Trainingsmethoden. Wir wissen aus unserer Arbeit mit Vereinen, dass das der richtige Weg ist. Doch was wir ebenfalls wissen: Es braucht mehr als nur eine neue Philosophie, um wirklich eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen.


Das Problem ist nicht die Richtung, sondern die fehlende Konsequenz. Ein echter Reformschritt hätte bedeutet, die über 300 DFB-Stützpunkte neu zu denken, zusätzliche Förderangebote zu schaffen, die Trainerausbildung radikal zu modernisieren oder Schulen enger mit dem Fußball zu verzahnen. Stattdessen bleiben die Maßnahmen auf das Kinderfußballtraining beschränkt. Die Philosophie mag gut durchdacht sein – aber sie bleibt Stückwerk.

Ein Blick zurück zeigt, dass Deutschland das schon einmal besser gemacht hat. Anfang der 2000er wurde das Talentförderprogramm eingeführt, 366 Stützpunkte entstanden, 1.000 Mini-Spielfelder wurden gebaut, die Nachwuchsleistungszentren professionalisiert. Das war eine echte Reform – mit nachhaltigen strukturellen Veränderungen. Heute sehen wir eine Philosophie, die zwar gute Ansätze hat, aber bisher kaum über das Training im Verein hinausgeht.


Wie der DFB die Trainingsphilosophie verbreiten will – und wo die Strategie scheitert


Doch genau hier beginnt das Problem. Denn die Umsetzung dieser Philosophie hängt fast vollständig von der Eigeninitiative der Vereine und Trainer*innen ab.

Der DFB setzt auf:

  • Präsenz-Fortbildungen & Longform-Videos auf YouTube

  • Präsentationen in Landesverbänden

  • Beispiel-Übungseinheiten in Broschüren und PDFs

  • Empfohlene Trainingsinhalte, die „nach und nach übernommen“ werden sollen

Die Vision: Eine Kulturveränderung durch Überzeugungskraft und Begeisterung.


Die Realität: Ein sehr heterogenes Vereinswesen, strukturelle Engpässe und ein Ehrenamt, das oft am Limit agiert.


Und genau deshalb ist diese Strategie nicht ausreichend.

Denn eine neue Philosophie allein verändert noch keinen Trainingsalltag.

Wer schon heute nicht genug Trainer hat, wird nicht über Nacht die „beste Trainingseinheit“ spielen können.

Wer wöchentlich um Platzzeiten kämpft oder mit 8 Spieler*innen improvisieren muss, wird keine 3vs3-Turniere auf mehreren Feldern organisieren.

Und wer als Jugendleiter*in ohnehin schon alle Aufgaben vom Trikotausgeben bis zum Sponsoring übernimmt, wird keine neuen Konzepte umsetzen, die zusätzliche Anforderungen mitbringen.


Was jetzt passieren muss


Der DFB ist mit der neuen "Trainingsphilosophie Deutschland" einen ersten wichtigen Schritt gegangen. Doch wenn das deutsche Nachwuchssystem wieder zur internationalen Spitze aufschließen soll, dann darf es nicht bei diesem Schritt bleiben.


Es braucht mehr Mut, größere Investitionen und eine strukturelle Verankerung. Das bedeutet:

  • Flächendeckende Trainerqualifizierung, damit nicht nur einige, sondern alle Vereine auf dem neuesten Stand sind - flankiert mit kurzen, digitalen Angeboten, die Trainer*innen schnell weiterhelfen

  • Mehr institutionelle Förderung, vergleichbar mit den Stützpunkten der 2000er.

  • Verbindliche Richtlinien, damit aus einer Philosophie ein tatsächlicher Standard wird.

Die Gefahr ist, dass sich der DFB auf diesem Konzept ausruht und glaubt, das Problem gelöst zu haben. Doch eine Philosophie alleine reicht nicht aus – es braucht echte Veränderung.


Wir werden genau beobachten, ob und wie sich die Maßnahmen in den kommenden Jahren weiterentwickeln.

Denn wenn wir wirklich den deutschen Nachwuchs auf ein neues Niveau heben wollen, dann muss das hier nur der Anfang sein.

"Trainingsphilosophie Deutschland" auf unserer Videoplattform

Übungen für deine "beste Trainingseinheit", unsere Trainingsstruktur & Fortbildungen vom Kompetenzteam rund um Hannes Wolf.